
In den Kliniken einiger Bundesländer gibt es kaum noch Betten. Ein Notarzt spricht von einem “dramatischen epidemischen Ereignis”.
Aufgrund zunehmender Infektionen mit dem Respiratory Syncytial Virus (RSV) bei Kindern in Deutschland schlägt ein Kinderarzt Alarm.
Es handele sich um ein “dramatisches Seuchengeschehen” auf der Nordhalbkugel, sagte der Kinderintensiv- und Notarzt Florian Hoffmann der Deutschen Presse-Agentur. Er ist Generalsekretär der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) und Oberarzt der Dr. vom Hauner Kinderkrankenhaus in München.
In mehreren Bundesländern, darunter Bayern, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, gebe es in Kliniken kaum ein kostenloses Babybett, sagte Hoffmann. Grundproblem ist Personalmangel, sodass nicht alle bestehenden Betten auch betrieben werden können. Hoffmann sprach von “Katastrophenzuständen” – Familien mit kranken Kindern mussten in der Notaufnahme teilweise auf Hochbetten schlafen. Das ist ein Armutszeugnis für Deutschland. Viele betroffene Kinder sind schwer erkrankt und müssen beatmet werden.
Werte gehen „senkrecht nach oben“
Schon im Spätsommer 2021 habe es eine ungewöhnlich hohe RSV-Welle gegeben – aktuell sei die Lage aber noch schlimmer, sagte Hoffmann. Betroffen sind inzwischen viele Kinder im Alter von ein bis zwei Jahren, die – auch angesichts der Corona-Pandemie und der dagegen ergriffenen Maßnahmen – keinen Kontakt zum RSV hatten. Hoffmann sagte über den Trend bei Kleinkindern: „Es ist keine Kurve mehr, sondern die Werte steigen vertikal.“
Nach Definition des Robert-Koch-Instituts begann die RSV-Welle in der Woche zum 16. Oktober. In einem Bericht vom Mittwoch heißt es: „Besonders bei kleinen Kindern führt die anhaltende Zunahme der RSV-Aktivität zu vermehrten Arztbesuchen und Krankenhauseinweisungen.“ Hoffmann sprach auch von einer sehr frühen und sehr schweren Grippewelle, die seit einiger Zeit parallel zu beobachten sei.
Zur Situation in der Kinderintensivmedizin will Divi nächste Woche in Hamburg neue Zahlen präsentieren – und die damit einhergehenden Forderungen und Lösungsvorschläge zur Verbesserung der Versorgung schwerkranker Kinder. „Wir werden diesen Winter nicht alle versorgen können. Unsere Kollegen im ganzen Land wissen nicht, was sie mit unseren kleinen Patienten machen sollen.“ Strukturen zur Bewältigung der Situation sind nicht vorhanden und die vorhandenen Register zur Bettensituation sind aus Zeitmangel oft nicht aktuell. „Wir müssen jetzt tatsächlich Notfallmechanismen aktivieren, zum Beispiel Pflegekräfte aus der Erwachsenenmedizin hinzuziehen.“
RSV kann man in jedem Alter bekommen, besonders wichtig ist der Erreger aber bei Babys und Kleinkindern. Es kann sich um einen einfachen Atemwegsinfekt handeln, aber auch schwerwiegende Verläufe bis hin zum Tod sind möglich. Zu den Risikopatienten zählt das RKI zum Beispiel Frühgeborene und Kinder mit Lungenvorerkrankungen, aber auch Menschen mit Immunschwäche oder geschwächtem Immunsystem im Allgemeinen.
Das RKI gibt unter Berufung auf Schätzungen an, dass RSV-Atemwegserkrankungen weltweit mit einer Inzidenz von 48,5 Fällen und 5,6 schweren Fällen pro 1000 Kinder im ersten Lebensjahr auftreten. Normalerweise hätten 50 bis 70 Prozent innerhalb des ersten Lebensjahres mindestens eine Infektion mit RSV gehabt und fast alle Kinder bis zum Ende des zweiten Lebensjahres. Im Zuge der Corona-Schutzmaßnahmen blieben viele solcher Infektionen zeitweise aus. (dpa)