
Die wohl wichtigste Frage, die sich viele Deutsche während des Eröffnungsspiels des WM-Turniers stellten, wurde gleich mit dem Anpfiff beantwortet. Kapitän Neuer trug die Kapitänsbinde, die ihm, der Mannschaft und dem Deutschen Fußball-Bund vom Internationalen Fußballverband (FIFA) vorgeschrieben wurde. Das deutsch-europäische „One Love“-Bündnis blieb unter Verschluss. Damit war die erste Niederlage der Deutschen bei der WM in Katar perfekt, sie ergaben sich wortlos der FIFA, bevor der erste Ball gespielt wurde.
Neunzig Minuten später kam die nächste Enttäuschung: eine bittere 1:2-Niederlage gegen Japan. Auch auf dem Platz fehlte es den Deutschen an Durchhaltevermögen. Das Ende der WM-Qualifikation droht erneut.
Beim Gruppenfoto vor dem Anpfiff hatten die deutschen Spieler die Hände vor dem Mund. Sie wollten, dass es als Zeichen dafür verstanden wurde, dass es ihnen verboten war, mit dem verbotenen Bund zu sprechen. Aber das ist höchstens die halbe Wahrheit: Die Deutschen hätten sicherlich ein Zeichen setzen können – aber dafür hätten sie etwas riskieren müssen. Sie waren nicht bereit dafür. Und mit ihrer hilflosen Geste zeigten sie nur, dass sie den Mund halten, wenn es darauf ankommt.
Alibi-Foto vor dem Spiel
Auch sportlich hatte das Team der Fußballwelt im Hinspiel nichts zu sagen. Ihre Selbsteinschätzung, wieder Weltklasse zu sein, war nur die nächste deutsche Selbsttäuschung.
Wenn das Alibifoto vor dem Spiel und das enttäuschende Spiel danach ein Indiz waren, dann nur jenes der exorbitanten Anforderungen an eine Mannschaft, in die sich die Deutschen mit ihrer Ankündigung gebracht haben, mit der Binde und als Top ein Zeichen zu setzen Team wird sich fühlen. Vor dem Anpfiff standen die Nationalspieler wie gehorsame Kinder da; bis zum Schlusspfiff mit leeren Händen. Das waren zwei Tiefpunkte, von denen sich die Nationalmannschaft in Katar wohl nur schwer erholen wird – wenn überhaupt.
Die Debatte darüber, wie sich die Mannschaft in der Frage der Binde verhalten hat, sollte die Nationalmannschaft ebenso lange begleiten wie die Diskussion über ihre Leistung auf dem Feld im Spiel gegen Japan. Die Entwicklungen der vergangenen Tage führten dazu, dass Neuer im Vorfeld so im Fokus stand wie schon lange kein Nationalspieler mehr. Besonders relevant ist für den langjährigen Kapitän die Frage, wie Vorbilder reagieren, wenn sie unter Druck stehen, welche unerwarteten Seiten sich zeigen können, wenn Haltung gefragt ist, was etwas kosten darf.
Doch weder die allgemeine Empörung zu Hause noch der Wunsch vieler Anhänger nach Standhaftigkeit seitens des Kapitäns, seiner Mannschaft und des DFB waren mehr als ein stilles Zeichen. Und auf dem Feld, wenn nach einem Rückstand Entschlossenheit gefragt war, blieben die Deutschen auch ohne Durchbruch.
Der Nationalmannschaft droht der vorzeitige Rücktritt. Doch selbst wenn im weiteren Verlauf Erfolge gegen Spanien und Costa Rica und dann Siege folgen würden, können die Deutschen nicht mehr darauf vertrauen, dass in Katar wieder ununterbrochen deutsche Heldengeschichten entstehen. So wie es früher möglich gewesen wäre.
Jahrzehntelang waren die Fans gerne bereit, die Schwächen und das Fehlverhalten ihrer Favoriten außerhalb des Feldes zu übersehen. Wenn das Ergebnis am Ende stimmt. Heute werden Stars nach ihrem Gesamtverhalten beurteilt. Am Anfang lagen die Deutschen beide falsch, ihr Verhalten auf und neben dem Platz. Sicher ist nach diesen traurigen Erfahrungen nur eines: Die Nationalmannschaft braucht mehr Mut und Entschlossenheit. Und Selbstreflexion.