Einzelhaft in Deutschland: Wie lebendig begraben

Stand: 27.10.2022 06:00 Uhr

Einzelhaft soll in deutschen Gefängnissen eine Ausnahme sein. Doch viele Häftlinge leben Monate oder Jahre isoliert, in der Justizvollzugsanstalt Tegel in einem besonders düsteren Trakt. Anwälte fordern menschenwürdigere Bedingungen.

Von Silvia Stöber, tagesschau.de

23 Stunden am Tag in einer Zelle ohne TV, Internet, Telefon. Nur ein Radio und die Fähigkeit zu lesen. Kein Kontakt mit anderen Gefangenen, keine Besucher. 75 Minuten Ausgang in einen mit Stacheldraht umgebenen Hof. So beschreibt Rechtsanwalt Robert Unger, wie sein Mandant zweieinhalb Jahre in Untersuchungshaft verbrachte: “Am Ende war er komplett isoliert.” Der Täter wurde nun im Prozess „Mord Tiergarten“ für schuldig befunden und verbüßt ​​eine lebenslange Haftstrafe.

Silvia Stöber

Seine Untersuchungshaft verbrachte er im besonders gesicherten Bereich der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel. Laut Ungers ist es ein Ort der Düsternis: Eine schwere Holztür führt in das Gebäude, das zudem mit Stacheldraht eingezäunt ist, „als wäre es mit Eisen aus vorletztem Jahrhundert beschlagen“. Der Gang dahinter erweckt den Eindruck eines Todesopfers. Mit dem Gefangenen kann man nur durch eine Panzerglasscheibe sprechen. Versetzte Lochbleche links und rechts lassen nur Geräusche durch.

Unger spricht von “extrem harten Haftbedingungen”. Allerdings konnte er die Vorsicht verstehen. Sollte dem Häftling etwas zustoßen, könnte das einen Justizskandal auslösen – internationalen Ausmaßes, denn der Verurteilte ist Russe. Unger verweist auf Einschätzungen der Bundesanwaltschaft und der JVA, dass Tschetschenen Racheakte begehen könnten. Opfer des Auftragsmordes 2019 im Berliner Tiergarten war Selimkhan Changoschwili, ein Georgier tschetschenischer Abstammung.

Es gab auch einen nachrichtendienstlichen Hinweis auf eine mögliche Vergiftung sowie einen Aktenvermerk, dass befürchtet wurde, russische Botschaftsangestellte könnten dem Gefangenen bei einem Besuch etwas antun – nach Ungers Meinung “völlig absurd”. Zudem befürchtete sein Mandant auch eine mögliche Bedrohung durch Angehörige der Justiz und Mithäftlinge, da er als gefährlicher Verbrecher eingestuft wurde.

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Dennoch hielt Unger die “Einzelhaft” für zu hart: “Meiner Meinung nach kann ein Mensch das auf Dauer nicht ertragen.” Es muss einem Gefangenen auch möglich sein, „ein menschenwürdiges Leben zu führen“. Ob sich der Verurteilte noch in Einzelhaft befindet, wollte die Senatsverwaltung für Justiz in Berlin aus datenschutz- und persönlichkeitsrechtlichen Gründen nicht konkretisieren. Eine Tournee der JVA Tegel lehnte deren Leitung aus Sicherheitsgründen ab.

Jahrzehnte in Einzelhaft

Obwohl der Fall des „Tiergarten-Killers“ ein ungewöhnlicher ist, ist der Verurteilte keineswegs der einzige Häftling, der isoliert lebt. Allein in der JVA Tegel wurden nach Angaben der Berliner Senatsverwaltung für Justiz in den Jahren 2020 und 2021 neun Gefangene für mehr als 100 Tage in Einzelhaft gehalten. Als Begründung für diese „Trennungs“-Maßnahme verweist sie auf das Berliner Strafgesetzbuch, das nach § 86 besondere Sicherungsmaßnahmen erlaube, wenn Gefangenen „die Gefahr der Flucht, der Gewalt gegen Menschen oder Sachen, des Suizids oder der Selbsttötung droht“. schaden“.

Als Strafe für Regelverstöße darf laut Strafgesetzbuch Einzelhaft nur für maximal vier Wochen verhängt werden. Als besondere Sicherheitsmaßnahme ist sie jedoch nicht zeitlich begrenzt. Im Extremfall kann sie sich über Jahre oder sogar Jahrzehnte erstrecken. Ein Mann in der Justizvollzugsanstalt Celle lebt seit 18 Jahren getrennt, ein Gefangener in Rosdorf seit 26 Jahren, wie das niedersächsische Justizministerium bestätigt. Bis zum 29. August befanden sich fünf weitere Häftlinge in Niedersachsen seit mehr als einem Jahr in Einzelhaft.

Ende August 2020 befanden sich bundesweit insgesamt 23 Gefangene und zwei Personen in Sicherungsverwahrung. Diese Informationen wurden vom Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (CPT) eingeholt. Es ist Teil des europäischen Teils und besucht seit 2015 Gefängnisse und andere Hafteinrichtungen.

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“Äußerst schädliche Auswirkungen”

Der CPT betont, dass Einzelhaft “sehr schädliche Auswirkungen auf die geistige, körperliche und soziale Gesundheit der Betroffenen haben kann”. Wichtigster Indikator ist eine „deutlich höhere Suizidrate“ im Vergleich zu anderen Inhaftierten. Dies wirft eindeutig Fragen zum Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung auf. Darüber hinaus kann Einzelhaft eine “Gelegenheit für gezielten Missbrauch von Insassen außerhalb der Aufmerksamkeit anderer Insassen oder Justizvollzugsbeamter” schaffen.

Ein Minimum an menschlicher Nähe

Der Ausschuss fordert eine möglichst kurze Dauer der Einzelhaft. Das Haftregime muss so positiv wie möglich gestaltet werden. In seinem September-Bericht empfiehlt das CPT, isolierten Häftlingen nach Möglichkeit mindestens zwei Stunden echten menschlichen Kontakt und sinnvolle Arbeit außerhalb ihrer Zellen zu ermöglichen.

Je länger die Isolation dauere, desto mehr müssten die Betroffenen motiviert werden, sich in die Gefängnisgemeinschaft zu integrieren, so das Komitee. Bei dem Häftling in Rosdorf, der seit 26 Jahren in Einzelhaft ist, funktioniert das offenbar gut. Nach der Beschreibung des Komitees darf der Sicherungsverwahrte mit anderen Gefangenen und Vollzugspersonal sprechen, kochen und an Freizeitaktivitäten teilnehmen. Außerdem darf er fünfmal im Jahr für ein paar Stunden arbeiten und das Gefängnis verlassen. Dies steht im Einklang mit Informationen des Niedersächsischen Justizministeriums zu den Vorgaben für Arbeits- und Kommunikationsmöglichkeiten für Gefangene, die getrennt untergebracht sind.

Schwere psychische Störungen

Im Gegensatz dazu verbrachten die Häftlinge, die in Celle und Lübeck für längere Zeit isoliert waren, typischerweise 22 Stunden am Tag allein in ihren Zellen und hatten laut CPT nur sehr begrenzten zwischenmenschlichen Kontakt. „Besonders besorgniserregend“ sei, dass mehrere von ihnen „an schweren und anhaltenden psychischen Störungen litten und in der Justizvollzugsanstalt nicht ausreichend versorgt werden konnten“.

Isolation ist offensichtlich nicht die richtige Antwort auf ihre gesundheitlichen Bedürfnisse und hat möglicherweise sogar zu einer Verschlechterung ihrer psychischen Gesundheit beigetragen.

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Nach Angaben der beiden Vollzugsverwaltungen fehle es an Kapazitäten für eine therapeutische Behandlung in geeigneten Krankenhäusern. Auch in den Justizvollzugsanstalten Bayreuth und Gelsenkirchen stellte das CPT erhebliche Mängel in der psychiatrischen Versorgung fest.

Personalmangel

Personalmangel betrifft viele Gefängnisse. Nach Angaben des Justizsenats in Berlin waren Ende Juli rund 8,5 Prozent der Justizvollzugsanstalten in der Stadt unbesetzt. Die Rekrutierung von Nachwuchskräften, eine bedarfsgerechte Ausbildung und die Steigerung der Attraktivität von Arbeitsplätzen im Justizvollzug sind von großer Relevanz. Zu geringe Bewerberzahlen, insbesondere bei Ärzten und in der IT-Branche, führen jedoch dazu, dass Ausschreibungen erfolglos bleiben.

Der Vorsitzende des Vereins der Berliner Staatsanwälte, Oberstaatsanwalt Ralph Knispel, sagt, dass das Justizvollzugs- und Staatsanwaltschaftspersonal aufgestockt worden sei. Das ist aber noch lange nicht alles, was für einen reibungslosen Ablauf notwendig ist. Der hohe Krankenstand des Vollzugspersonals muss berücksichtigt werden. Gerade nachts kann man froh sein, wenn in den Gefängnissen nichts passiert.

Knispel weist auf besondere Anforderungen aufgrund des hohen Ausländeranteils in den Berliner Justizvollzugsanstalten hin. 2019 waren es 50 Prozent, Menschen aus 97 Ländern wurden inhaftiert. Dies führt nicht nur zu Sprachproblemen, auch Konflikte zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen werden in den Strafvollzug eingebracht. Der Berliner Justizsenat entgegnete, die „Vielfalt der soziokulturellen, ethnischen und religiösen Hintergründe unter den Gefangenen“ habe schon immer dazu geführt, dass die Beschäftigten im Justizvollzug entsprechend sensibilisiert und geschult würden.

Allerdings sei die Unterbringung von Gefangenen verschiedener Ethnien keineswegs reibungslos, sagt Knispel, obwohl die Dunkelziffer in den Gefängnissen hoch sei. Allerdings werden immer wieder größere Streitigkeiten in der zu Berlin gehörenden JVA Heidering bekannt. Auch Polizeibeamte wurden im Juni angegriffen.

Auch wenn Personalknappheit ein weit verbreitetes Phänomen ist, betrifft sie doch grundlegende Lebensbedürfnisse in Gefängnissen, von der Sicherheit bis zum Kontakt mit anderen Menschen.

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