
09. Dezember 2022 um 09:00 Uhr
Du hast dich befreit. Vielmehr wurden sie freigelassen. Bewegten sich autonome Transportroboter bisher meist auf Schienen oder in einem Kubus, flitzen sie jetzt frei über den Hallenboden: So geschehen im Oktober 2022 während einer zweiwöchigen Testphase im DPD-Sortierzentrum in Köln-Porz. Noch sei es „ein Spielzeug für große Jungs“, sagt Lukas Bauer im YouTube-Video „Loadrunner: DPD testet Roboter für das Depot der Zukunft“. Der Senior Group Manager Corporate Real Estate & Technology bei DPD ist begeistert von der Schwarmintelligenz. Entwickelt wurde der „Loadrunner“ von Wissenschaftlern des Fraunhofer-Instituts für Materialfluss und Logistik IML in Dortmund. Derzeit wird es im „Enterprise Lab“ zur Marktreife gebracht – gemeinsam mit der Kion Group als exklusivem Industriepartner.
Voraussetzung dafür, dass die smarten Transportroboter selbstständig Sortieraufgaben übernehmen und eigene Routen bestimmen, ist künstliche Intelligenz (KI). Der Ansatz ermöglicht es den Maschinen, sich als Schwarm zu koordinieren. Schwarmintelligenz ist einer der Hauptbereiche, in denen sich das Fraunhofer IML einen Namen gemacht hat. „Vor einigen Jahren haben wir den Schwarm ausgerufen, jetzt wird er nach und nach Realität – so wie vieles, woran wir vor 20 Jahren gedacht haben“, sagt Prof. DR. Dr. hc Michael ten Hompel, Geschäftsführender Institutsleiter des Fraunhofer IML.
Mit „viel“ meint er zum Beispiel das Internet der Dinge, das das Fraunhofer IML „miterfunden“ hat. Hinzu kommt die Fährtechnik und künstliche Intelligenz als Grundlage für viele Anwendungen, die in naher Zukunft ein selbstverständlicher Bestandteil der Logistikwelt sein werden. KI ist auch eine der Säulen eines der zentralen Forschungsprojekte, an denen die Dortmunder Wissenschaftler derzeit und in den kommenden Jahren weiterarbeiten: der sogenannten „Silicon Economy“.
Silicon Economy ist das Gegenteil von Silicon Valley. Während Apple, Google und Co. es geht um zentrale B2C-Plattformen, bei denen Nutzer die Kontrolle über ihre Daten abgeben, die Silicon Economy bedeutet eine offene Plattformökonomie für die Logistik. Das bedeutet: Künftig werden Daten zwischen Unternehmen im B2B-Geschäft ausgetauscht, ohne dass die Beteiligten die Datenhoheit aufgeben. Professor ten Hompel spricht über die Zusammenarbeit bei „Linux for Logistics“ und sagt: „Wir treiben ein föderiertes System voran, um die Logistik von morgen besser zu steuern.“
Wissen für alle
Ziel ist die vollständige Digitalisierung von Logistikprozessen auf Basis von künstlicher Intelligenz und Blockchain-Technologie. Konkret müssen die Unternehmen für Unternehmen frei verfügbar sein, die sich nicht vom Wettbewerb abgrenzen, wie etwa „Tracking-Anwendungen“ oder die VDA 5050, eine Schnittstelle zu fahrerlosen Transportsystemen. Es gehe darum, gemeinsame Standards in Deutschland und Europa zu etablieren, „damit nicht alle von vorne anfangen müssen, um die gleichen Schnittstellen zu entwickeln“, sagt ten Hompel.
Unternehmen, die sich zur „Open Logistics Foundation“ zusammengeschlossen haben, arbeiten nun an der Umsetzung der Vision. Der Anstoß zur Gründung dieser Stiftung kam vom Fraunhofer IML. In dem Verband, der seit April dieses Jahres für alle Logistikunternehmen offen ist, kooperieren Unternehmen, die eigentlich miteinander konkurrieren, aber bei Open-Source-Komponenten für Hard- und Software kooperieren. Neben den Gründungsmitgliedern Dachser, DB Schenker, Duisport und Rhenus sind mittlerweile auch Softwareentwickler wie AEB und Setlog an der Schaffung einheitlicher IT-Standards beteiligt. Diese sollen dann frei verfügbar sein, damit jedes Unternehmen auf dieser Basis eigene Geschäftsmodelle entwickeln kann.
Der Erfolg des Projekts hängt jedoch davon ab, ob die Mitglieder der Logistik-Community bereit sind, sich zu beteiligen. Die Botschaft von Ten Hompel lautet: „Wir müssen europäisch denken und brauchen einen anderen Geist der Zusammenarbeit. Je mehr Unternehmen sich in der Silicon Economy engagieren, desto mehr profitieren alle Logistiker davon.“ Der Institutsleiter warnt vor einer abwartenden Haltung gegenüber dem „Mal schauen, was die Konkurrenz macht“, denn dann „geht es ohne euch“.
Robotik und KI
Ein Beispiel für diesen Geist und die Arbeit der Open Logistics Foundation an der Vision Silicon Economy ist der „evoBOT“. Dank einer Pendelbewegung kann der Roboter per Fernbedienung mit seinen „Armen“ Kisten vom Boden heben und stapeln, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Forscher des Fraunhofer IML entwickelten die erforderliche Funktionalität des inversen Pendels im Rahmen eines Teilprojekts der Silicon Economy. Die Baupläne für die erste Pendelstufe des Fahrwerks sowie Komponenten für die Navigations- und Lokalisierungssoftware sind in Open Source bei der Open Logistics Foundation verfügbar.
Hompel war sehr begeistert von „Odyn“, einem der aktuellen simulationsbasierten KI-Projekte von Silicon Economy. Odyn existiert als echtes autonomes Fahrzeug und als sein bis ins kleinste Detail im Computer simulierter Zwilling. In der Simulation lernt das AGV, Paletten aufzunehmen. Die erlernten Regeln werden dann nahezu in Echtzeit auf das reale Fahrzeug übertragen. „Das Fahrzeug selbst merkt nicht mehr ‚Fahre ich in der Simulation oder in der Realität?‘. Odyn verhält sich wie ein Avatar der Simulation. Das ist schon verrückt“, sagt der 64-jährige Professor.
2024 wird ten Hompel, der derzeit mit Prof. Dr. hc Michael Henke und Prof. Uwe Clausen leitet, übergibt an die Institutsverwaltung. Als einer von vier Co-Direktoren des virtuellen „Lamarr Institute for Machine Learning and Artificial Intelligence“ werden Sie sicher noch mehr von ihm hören. “Es gibt noch so viel zu entdecken!” sagt er und lacht.sln
Autorin: Susanne Frank, freie Journalistin, München.
Unternehmenslabor
Enterprise Lab ist eine Form der Zusammenarbeit zwischen Fraunhofer IML mit der Industrie. Es ist auf mindestens drei Jahre angelegt und bedeutet, dass mindestens drei Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Instituts hauptberuflich an dem Projekt arbeiten und zusätzlich durch Assistentinnen und Assistenten unterstützt werden. In den eigens für die Labore zur Verfügung stehenden Kooperationsräumen arbeiten sie gemeinsam mit Unternehmensvertretern an aktuellen Laborthemen. Das beteiligte Unternehmen investiert in der Regel einen mittleren sechsstelligen Betrag pro Jahr; Hinzu kommen die Lizenzen für die Patentrechte.
Ein Drittel seines Jahresbudgets erwirtschaftet das Fraunhofer IML mit Aufträgen aus der Industrie – 2021 waren es 13,5 Millionen Euro bei einem Gesamtbudget von fast 40 Millionen Euro. Ein weiteres Drittel stammt aus öffentlichen Aufträgen, das letzte Drittel ist Grundfinanzierung von Bund und Ländern.