

Die deutsche Wirtschaft hat sich nach dem Schock des Ukraine-Krieges als krisenfest erwiesen und scheint sogar in der Lage zu sein, eine Winterrezession zu vermeiden.
Gleichzeitig nehmen jedoch die Bedenken hinsichtlich der Wettbewerbsfähigkeit zu. Zu den Klagen über zu viel Bürokratie und hohe Steuern kommt nun die Befürchtung, dass dauerhaft höhere Energiepreise Teile der Produktion in Deutschland unwirtschaftlich machen.
Die Investitionen ausländischer Unternehmen in Deutschland nehmen sogar zu, nicht nur von Tesla und Intel. Was ist dran an der Debatte um die drohende Deindustrialisierung?
Rückblickend lief es überraschend gut für die deutsche Wirtschaft. Doch den Ausblick trübt eine neue Sorge: Verliert der Wirtschaftsstandort Deutschland an Wettbewerbsfähigkeit?
Ob Corona-Pandemie oder Ukraine-Krieg, ob hohe Energiepreise oder Flaute in China, ob Rekordinflation oder steigende Zinsen: Deutsche Unternehmen haben alle Schläge besser weggesteckt, als die Experten ihnen zugetraut hätten – und das haben sie auch sich. “Wir sind hier in Stücke!” Dieser erschreckende Aufschrei des Deutschen Industrie- und Handelskammertags in einem Brief an seine vier Millionen Mitgliedsunternehmen spiegelte die Stimmung im Sommer 2022 wider.
Die Wirtschaftsprognosen verdunkelten sich jede Woche. Auf die höchste Inflationsrate seit Bestehen der Bundesrepublik wird die schwerste Wirtschaftskrise folgen. Erstmals seit Ende des Zweiten Weltkriegs befürchteten die Deutschen, im Winter nicht mehr ausreichend heizen zu können – und die Industrieschornsteine mit dem Gas auszugehen.
Dann kam der Wendepunkt. Beschäftigt von widerstandsfähigen Unternehmen und Haushalten, unterstützt durch rekordverdächtige staatliche Ausgabenprogramme. Es gibt kaum Entlassungen. Im Gegenteil, Arbeitskräfte sind nach wie vor rar und wertvoll. „Die Bundesregierung hat zumindest vorerst die Rezession abgepfiffen“, sagt Dekabank-Chefvolkswirt Ulrich Kater.
Entgegen allen Erwartungen ist die Wirtschaft im dritten Quartal 2022 wieder gewachsen. 2022 wird das Bruttoinlandsprodukt um 1,9 Prozent steigen. Auch eine Winterrezession scheint Deutschland zu überstehen. Die Prognosen drehen nach oben. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft geht sogar davon aus, dass Europas größte Volkswirtschaft 2023 leicht um 0,3 Prozent wachsen wird.
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Besonders bemerkenswert: Zu Beginn des Ukraine-Krieges stammten 55 Prozent des in Deutschland verbrauchten Gases aus Russland, dazu etwa die Hälfte der Steinkohle und mehr als ein Drittel des Erdöls. In etwas mehr als zehn Monaten gelang es Deutschland, vollständig unabhängig von Russlands Energie zu werden. Von Gasknappheit ist keine Rede mehr. Die Lichter gingen nicht aus.

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Kein neues deutsches Wirtschaftswunder
Alles ok, also? Erleben wir ein neues deutsches Wirtschaftswunder? Auch hier lautet die Antwort: im Gegenteil. Denn nichts zählt im Geschäft so wenig wie der Blick zurück. Der Blick nach vorne lässt jedoch viele Bedenken aufkommen. Deutschland fürchtet um seine Wettbewerbsfähigkeit. Die Umbrüche des Kriegsjahres 2022 offenbarten nicht nur die Stärken der deutschen Wirtschaft, sondern auch ihre Schwächen.
Erstens gibt es grundsätzliche Zweifel an dem „Geschäftsmodell“, das Deutschland seit Jahrzehnten erfolgreich betreibt. Es lässt sich so zusammenfassen: Billige Energie aus Russland, hohe Exporte nach China und die USA zahlen für die Sicherheit. In diesem Umfeld haben deutsche Unternehmer und Facharbeiter, Ingenieure und Manager große Erfolge erzielt und Deutschland zu einem der reichsten und friedlichsten Länder der Welt gemacht.
Aber das war vor dem “Wendepunkt” der russischen Invasion in der Ukraine. Deutschlands Wirtschaftsmodell sei perfekt für das 20. Jahrhundert geeignet, aber das 21. Jahrhundert zeige, wie verletzlich es sei, sagte der schottische Wirtschaftshistoriker Niall Ferguson am Rande des Weltwirtschaftsforums in Davos gegenüber Die Welt. Ferguson: „Das Vermächtnis von Angela Merkel ist, dass Deutschland wieder der Michel ist, der es im 19. Jahrhundert war.“
Relegationsplatz in der Tabelle der Wettbewerbsfähigkeit
Zweitens gibt es eine Analyse der Wirtschaftsforscher des ZEW in Mannheim, wonach auch Deutschland messbar an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt hat. 2022 fiel Deutschland im ZEW-Ranking von Platz 14 auf Platz 19 von 21 betrachteten Ländern. Das ist die Abstiegszone.
„Gerade die hohen Energiepreise, an denen wir wenig ändern können, sollten einen Anreiz setzen, die sonstigen Rahmenbedingungen für Investitionen zu verbessern“, sagt Rainer Kirchdörfer von der Stiftung Familienunternehmen, die die Analyse in Auftrag gegeben hat. Er verweist auf zu viel Bürokratie, lange Genehmigungsverfahren, hohe Steuern und Fachkräftemangel. Positiv ist die geringe Verschuldung des Staates und der privaten Haushalte.
Dennoch nennt das ZEW das Bild nüchtern. „Auch abseits des Themas Energie gibt es keine Standortfaktoren, die einen klaren Aufwärtstrend zeigen.“
Und drittens gibt es Abstiegsängste, vor allem in der deutschen Industrie selbst. Die eine Seite ist, wie gut Deutschland und Europa insgesamt die von Russland provozierte Energiekrise überstanden haben. Der Energieökonom Lion Hirt von der Berliner Hertie School twitterte am Freitag sogar: „Ich neige dazu, die europäische Energiekrise nicht mehr als ‚andauernd‘ zu bezeichnen, sondern als ‚Energiekrise 2022‘, also als historisch zu bezeichnen .”
Die Kehrseite der Medaille ist jedoch, dass Energie in Deutschland langfristig teurer bleiben dürfte als vor der Krise. Wo wird diese neue Normalität sein? Und können energieintensive Industriezweige mit diesen Preisen in Deutschland wettbewerbsfähig produzieren?
Der Bundesverband der Deutschen Industrie ist skeptisch. In den USA kostet heimisches Gas nur 20 Prozent des Preises, den Unternehmen in Deutschland zahlen müssen. Auch hier wird die Versorgung durch Gas aus den USA sichergestellt. Aber es muss erst verflüssigt, mit Schiffen über den Atlantik transportiert und an den LNG-Terminals wieder in Pipelinegas umgewandelt werden. Es kostet
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Kostet es auch die Industrieproduktion in Deutschland? Insgesamt kam die deutsche Industrie ohne Produktionseinbußen durch die Krise, obwohl sie mehr als 20 Prozent weniger Gas verbrauchte. In den energieintensiven Branchen Chemie, Metall, Papier, Keramik und Ölverarbeitung ging die Produktion jedoch um mehr als zehn Prozent zurück. Es stimmt auch, dass diese Reduzierung der Produktion auch zur Einsparung von Gas beigetragen hat.
Als Alarmsignal nennt BDI-Chef Siegfried Russwurm eine weitere Zahl: Der Anteil der Industrie an der deutschen Wirtschaftsleistung sei von 20,8 auf 20,5 Prozent im Jahr 2022 spürbar gesunken. Jetzt kommt, was Volkswirte der Deutschen Bank im Frühherbst prognostiziert haben. „Wenn wir in etwa zehn Jahren auf die aktuelle Energiekrise zurückblicken, können wir diese Zeit als Ausgangspunkt für eine beschleunigte Deindustrialisierung in Deutschland sehen.“
Immer mehr ausländische Unternehmen investieren in Deutschland
Wer jetzt von Deindustrialisierung rede, unterschätze deutsche Unternehmen – und “die Entschlossenheit der Bundesregierung”, entgegnete Wirtschaftsminister Robert Habeck. Die Krise beherrschbar zu machen, vielleicht sogar eine Rezession zu vermeiden, ist eine Leistung, mit der Habeck nicht zufrieden ist. „Dann haben wir immer noch eine stagnierende Wirtschaftsleistung, und das ist natürlich keine gute Situation“, sagte Habeck gegenüber Welt TV in Davos. Deutschland muss seine Kapazitäten zur Umstellung der Wirtschaft weg von fossilen Brennstoffen dringend ausbauen. Solar, Strom, Wind und Wasserstoff sind ebenfalls Teil der Industrie.
Und Industrien entstehen und wachsen in Deutschland. Die Elektronikindustrie hat ihren Umsatz um zwölf Prozent auf 224 Milliarden Euro im Jahr 2022 gesteigert. Auch ohne Kurseffekte bleibt ein stattliches Plus von 3,7 Prozent. „2022 war ein starkes Jahr für die deutsche Elektro- und Digitalindustrie“, sagt Gunther Kegel, Präsident des Branchenverbands ZVEI.
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Die Branche wird bald wachsen. Der amerikanische Konzern Intel baut am Stadtrand von Magdeburg eine Halbleiterfabrik und investiert dort rund 20 Milliarden Euro. Die Standortwahl fiel auch wegen der Nähe zur Automobilindustrie mit VW im nahen Niedersachsen und dem ebenfalls neuen Tesla-Werk bei Berlin. Auch dort flossen Investitionen in Milliardenhöhe.
Insgesamt spiegeln die Zahlen zu den Auslandsinvestitionen in Deutschland keine Skepsis gegenüber dem Wirtschaftsstandort Deutschland wider. 2021 stieg die Zahl der Ansiedlungen ausländischer Unternehmen um sieben Prozent auf 1806. „Es geht weiter nach oben“, sagte der Geschäftsführer der Bundeswirtschaftsförderung Germany Trade & Invest, Robert Hermann, der Nachrichtenagentur Reuters zur Krise Jahr 2022 : “Am Standort Deutschland gibt es keine Bedenken.”
Dies zeigt sich auch darin, dass ausländische Unternehmen zunehmend in Zukunftstechnologien investieren – beispielsweise im Bereich Halbleiter, Batterieproduktion und Recycling. “Hier gibt es viele Unternehmen, die viel Geld investieren wollen.”
BDI-Präsident Russwurm lenkt den Scheinwerfer in die entgegengesetzte Richtung. Es besteht die reale Gefahr, dass deutsche Industrieunternehmen energieintensive Produktionen in die USA verlagern oder dort statt in Deutschland neue Kapazitäten aufbauen. Neben den niedrigeren Energiepreisen lockten die USA auch mit hohen Subventionen. Auch in Europa wird der Wettbewerb härter. Russwurm verweist auf Österreich mit attraktiven Bedingungen für forschungsintensive Unternehmen. Dass Österreich seit vielen Jahren auf die Erbschaftssteuer verzichtet, macht unsere Nachbarn für Familienunternehmen besonders attraktiv.
Russwurm sagt, er mache sich am wenigsten Sorgen um deutsche Industrieunternehmen. Aber es geht um den Industriestandort Deutschland. Aber auch aus Sicht von Russwurm ist der Kampf nicht verloren. „Heimattreue gehört zur DNA der deutschen Wirtschaft“, sagt er. “Jetzt muss die Regierung nur noch vom Krisenmodus in den Entscheidungsmodus wechseln.”
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