
Stand: 31.12.2022 16:59
Verfolgte Wissenschaftler, kein Zugang mehr zu internationalen Fachzeitschriften, „Brain Drain“: Die Sanktionen und zunehmende staatliche Repression versetzten der russischen Wissenschaft einen schweren Schlag.
Als er im verbarrikadierten Polizeiauto saß, ahnte er, dass ihn sein Protest diesmal seinen Job kosten könnte. Dass sich seine Universität später aber nicht einmal die Mühe machen würde, eine Entschuldigung für seinen Rücktritt zu finden, überraschte Hochschullehrer Denis Skopin mehr als alles andere.

Annett Kammerer
ARD-Studio Moskau
Proteste gegen Teilmobilmachung
Es ist der 21. September: Wladimir Putin kündigt am Morgen die Teilmobilmachung an. Die russische Regierung hat die Einberufung von 300.000 Reservisten angekündigt. Der entsprechende Präsidialerlass ist nur eine Seite lang und hat erstmals seit Anfang März landesweit kleine Proteste ausgelöst.
In St. Petersburg geht Skopin auf die Straße. Er lehrt Philosophie im Studiengang „Liberal Arts“ an der St. Petersburg State University – eine Modellfakultät ohne Präsenzunterricht, wie Skopin stolz erklärt, mit vielen Studierenden aus dem Ausland und Oppositionslehrkräften.
Kündigung wegen “unmoralischen Verhaltens”
Weil die Proteste aber zu klein sind, werden laut Skopin am Ende fast alle festgenommen. Der Hochschullehrer kommt mit vielen anderen in “Avtozak” an, einem der berühmten Gefangenentransporter, die am Rande jeder Demonstration auf ihren Einsatz warten. Skopin wird in Gewahrsam genommen. Es folgte ein zügiger Prozess, gefolgt von zehn Tagen Gefängnis und etwa einen Monat später die Entlassung. Wegen “unmoralischen Verhaltens” darf er nicht mehr an der Universität St. Petersburg arbeiten.
Am 24. Februar, dem Tag des Kriegsbeginns, sei an der Universität alles vorbei, sagt der Dozent, schiebt sich immer wieder seine schwarze Brille unter die Nase und kämpft um Fassung. Der Wissenschaftler schätzt, dass 30 bis 40 Prozent der Belegschaft gekündigt oder entlassen wurden. Die meisten von ihnen sind schon lange im Ausland. Einige der anderen, die geblieben sind, warten nur auf das Ende des akademischen Jahres, um zu gehen.

Der Krieg und die Folgen für die Wissenschaft
In einer Miniserie wollen wir die Folgen des Ukrainekrieges für die Wissenschaftslandschaft beleuchten. Der erste Teil handelt von der Ukraine, wo viele Universitätsgebäude beschädigt sind, die Finanzierung ungewiss ist und viele Studenten und Forscher vor Kämpfen fliehen. Im zweiten Teil betrachten wir Deutschland, das Hauptziel geflüchteter ukrainischer Akademiker, und die Frage, wie sie hier in das Wissenschaftssystem integriert werden können – und wie dies auch beim späteren Wiederaufbau der Ukraine helfen kann. Und schließlich geht es um Russland, das unter den Sanktionen leidet, aber gleichzeitig die Repression verschärft.
Kein Zugriff mehr auf Fachzeitschriften
Schon vor Beginn der sogenannten militärischen Spezialoperation konnten die Universitäten nicht alle wissenschaftlichen Publikationen zugänglich machen, aber jetzt können in Russland fast keine wissenschaftlichen Zeitschriften mehr offiziell gelesen werden. Selbst Eliteuniversitäten wie die in St. Petersburg hätten mittlerweile ihre teuren Lizenzen entzogen, sagt Skopin.
Anfang März hatte die russische „Union of Principals“ in einem offenen Brief ihre Unterstützung für den „Sondereinsatz“ in der Ukraine erklärt. Der Hauptzweck der Universitäten besteht darin, dem Staat zu dienen. Wir müssen uns jetzt „um unseren Präsidenten“ vereinen. Der Brief endet mit: „Gemeinsam sind wir stark!“
Verlassen Sie das Bologna-System
Im Mai kündigte Russland dann an, das Bologna-System nach fast 20 Jahren zu verlassen. Durch den Vergleich der Bildungsprogramme in fast 50 Ländern vereinfachte das System die Mobilität in der Hochschulbildung und den akademischen Austausch.
Russland wolle nun ein “eigenes, einzigartiges Hochschulmodell” entwickeln. So erklärte der Leiter des Ministeriums für Hochschulwesen und Wissenschaft gegenüber der russischen Zeitung „Kommersant“ die Abreise aus Bologna. Was genau das bedeuten könnte, wurde Ende Oktober deutlich: Mehr als 200 Wissenschaftler und Vertreter akademischer Einrichtungen kamen in der Schwarzmeerstadt Sotschi zur gesamtrussischen Wissenschaftskonferenz zusammen. Sein Titel: „DNK Rossija“, zu Deutsch: die DNA Russlands.
Neues Pflichtfach zur Förderung von “Patriotismus”
Auf der „DNA“-Konferenz wurde unter anderem beschlossen, ein neues Pflichtfach einzuführen. Sein Titel: “Grundlagen der russischen Staatlichkeit”. Ziel des Kurses sei es, so Alexander Kharichev, der die Einführung der Präsidialverwaltung koordiniert, Werte zu vermitteln, die im nationalen Interesse Russlands liegen: „Patriotismus, bürgerliches Vertrauen, Zustimmung, Solidarität und Familie“.
Das erinnert Dozent Skopin an die Hochschulbildung zu Sowjetzeiten, als alle den Kurs „Wissenschaftlicher Kommunismus“ absolvieren mussten. Eine Disziplin, so Skopin, die niemand ernst genommen habe. Ein ähnliches Thema ist jedoch im heutigen Russland längst Pflichtfach an den Schulen: „Gespräche über die wichtigen Dinge“. Das Äquivalent für Universitäten soll nächstes Jahr starten.
Wissenschaftler als “ausländische Agenten”
Gleichzeitig sind bereits viele Fälle von verfolgten Wissenschaftlern bekannt. Erstens wird die Liste der “ausländischen Agenten” fast jeden Freitag erweitert. Darunter die Historikerin Tamara Eidelman, die vom russischen Staat mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet wurde, aber auch Dozenten russischer Eliteuniversitäten wie dem Moskauer Institut für Internationale Beziehungen MGIMO oder der Higher School of Economics in der Hauptstadt.
Eine „Finanzierung“ aus dem Ausland reicht aus, um zum ausländischen Agenten erklärt zu werden. Das heißt, wer einen Artikel in einer ausländischen Fachzeitschrift veröffentlicht und dafür ein Honorar erhält, erfüllt zumindest theoretisch bereits die Voraussetzungen. “Ausländische Agenten” dürfen in Russland nicht an staatlichen Bildungseinrichtungen unterrichten.
eine Anklage wegen Hochverrats
Es gibt auch Fälle wie den von Alexander Shiplyuk. Anfang August wurde bekannt, dass der Direktor des Instituts für Theoretische und Angewandte Mechanik der Russischen Akademie der Wissenschaften festgenommen und angeklagt wurde, offenbar wegen Hochverrats. Vor Kriegsbeginn im Februar gab es ähnliche Fälle. Einem Gerücht zufolge soll der Chef der Russischen Akademie der Wissenschaften Präsident Putin persönlich kontaktiert haben.
Die Fakultät von Skopin, dem entlassenen Professor aus St. Petersburg, wird nun tatsächlich aufgelöst. Sein Studiengang Liberal Arts wurde umbenannt und neu strukturiert. Skopin wird nun auch nach Berlin gehen und dort unterrichten. Auch wenn er das nie wollte, sagt der Dozent mit Tränen in den Augen: „Ich bin nicht besonders begeistert davon. Ich will nicht. Aber mir bleibt einfach keine andere Wahl.“